Interview mit Martin Schultz

Das ehemalige Vorstandsmitglied der Deutschen Depressionsliga spricht über Enttabuisierung, Online Therapie, die Royals und Politik.

Du bist ja sehr engagiert in verschiedenen Betroffenen-Initiativen.

Martin Schultz: Ich mache so etwas wie Basisarbeit hier in Pankow im Stadtteilzentrum, wo wir eine Betroffenen Beratung (Peer-Beratung) anbieten. Der Schwerpunkt ist dabei, wie funktioniert Selbsthilfe, denn es kommen häufig Menschen, die meist noch keine ambulante Therapie haben und danach suchen. Wir empfehlen auch immer die Institutsambulanzen, weil man da schneller an Termine kommt und weil man da die Chance hat, an junge motivierte Therapeuten zu kommen.

Du hast auch sehr viel Erfahrung durch deine Arbeit bei der Deutschen Depressionsliga. Was denkst du, was Menschen, die in eine schwierige Situation geraten sind, helfen kann?

Martin Schultz: Das meiste, was Menschen machen, ist, dass sie sich online Hilfe suchen, d.h. sie schließen sich online auch Gruppen an. Das sind oftmals geschlossene Facebook Gruppen wie „Depression ein Gesicht“. Die eine hat jetzt gerade 7000 Mitglieder vermeldet. Ich verfolge auf Tagungen und Konferenzen, wie Hilfe ohne persönlichen Kontakt im Internet wirkt. Die Ergebnisse von Studien zeigen, dass Online Therapie gut helfen kann, wenn sie kombiniert wird mit persönlichem Kontakt. Es gibt die Menschen, die sagen, mir hat das sehr geholfen mit Facebook, Twitter und Co und es gibt die, die sagen, aber das führt auch zu Vereinsamung. Jeder muss das für sich selbst wissen. Manche schreiben in die Facebook Gruppe rein, mir geht es heute „beschissen“ und bekommen dann eine Flut von Unterstützung von anderen. Diesen Vorteil, der Verfügbarkeit von Hilfe, bietet dir keine Beratungsstelle und auch Freunde nicht, wenn du nachts um 3:00 Uhr mit Grübelschleifen wach liegst. Und online findest du bestimmt jemanden, der gerade online ist.

Findest du, dass durch das Internet eine gewisse Enttabuisierung stattgefunden hat?

Martin Schultz: Im Vergleich zu vor 10 Jahren ist es weniger ein Tabu, aber im Alltag ist es immer noch ein Problem, wenn mir jeden Tag oder jede Woche Menschen berichten, wie Arbeitgeber, Freunde, Bekannte oder Familie darauf reagieren.

Was sind die Reaktionen?

Martin Schultz: Viele reagieren eben noch mit einem Unverständnis, dass sie im Alltag hören: Mensch reiß dich zusammen oder hör mal, so schlecht geht es dir doch gar nicht. Ein Beinbruch ist eben immer noch etwas anderes als eine psychische Erkrankung, so sehen es zumindest viele. Gerade vor dem Arbeitgeber ist das schwierig, weil, man dann nicht mehr als so leistungsfähig gilt. Und selbst im Familienkreis verheimlichen viele ihre Depression oder erfahren ablehnende Reaktionen.

Erst kürzlich sind die Royals in die Öffentlichkeit gegangen und haben sich zu ihrer psychischen Erkrankung geäußert.

Martin Schultz: Ja jeder der sich outet, das ist erstmal für sich genommen gut für die ganze Bewegung und für die Menschen, die betroffen sind, macht es das ein Stück weit leichter, nur solange es immer Künstler oder Promis sind, ist es aber im normalen Arbeitsleben nicht unbedingt leichter für den Busfahrer, die Putzfrau, den betroffenen Hochschulprofessor oder betroffenen Arzt offen mit der Erkrankung umzugehen. Promis outen sich schon seit vielen Jahren, es bringt aber nicht viel im Alltag, weil man ja immer sagt, na die Künstler, die stehen immer im Rampenlicht, werden immer verfolgt von Paparazzi, da ist es ja irgendwie verständlich, dass sie erkranken. Gerade nach dem Tod von Lady Di, was wieder so ein Lebensereignis ist, wird gesagt, wenn man danach eine Krise hat, ist das irgendwie klar. Aber grundsätzlich finde ich es immer gut, wenn jemand offen über psychische Erkrankungen spricht.

Werden die Probleme der Menschen einfach zu wenig wahrgenommen und deshalb ist es weniger verständlich?

Martin Schultz: Ich finde, eines solchen Lebensereignisses wie Tod eines Angehörigen bedarf es ja gar nicht, um eine Depression zu entwickeln. Ich brauche ja auch kein dramatisches Erlebnis, um eine Krebserkrankung zu entwickeln. Die bekomme ich einfach so. Manchmal sage ich scherzhaft zu Leuten, die psychische Erkrankungen nicht verstehen: Weißt du, ich kann deine körperliche Erkrankung nicht verstehen. Ich kann Marathon laufen und Gewichte stemmen aber ich kann deine Erkrankung nicht verstehen. Es gibt ja den Spruch, einem Depressiven zu sagen: sei doch glücklich, das Leben ist so schön. Das ist ungefähr genauso, wie einem Asthmatiker zu sagen, hey ich verstehe deine Probleme nicht, ist doch gute Luft hier. Es braucht eben keiner besonderen Tragik, um eine Depression zu entwickeln. Es kann jeden treffen auch in der besten Phase des Lebens.

Was würdest du dir von der Politik wünschen?

Martin Schultz: Was es bis heute nicht gibt ist eine nationale Aufklärungskampagne. Für Drogen und Aids gibt es millionenschwere Kampagnen auf den Straßen mit Plakaten. Auch bei Rasern im Straßenverkehr gibt es Kampagnen mit Plakaten auf Autobahnen. Finden wir alles gut, aber warum gibt es nicht eine nationale Aufklärungskampagne der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung mit Plakaten zum Thema Depression und Suizidprävention. Schaut besser hin, wenn es jemandem nicht so gut geht. Das würde ich mir wünschen.

Ich danke dir für das Gespräch.

04/2017